Freitag, 23. November 2007

Kapitel 1: Der Alarm

Der Alarm

"Dr. Benny bitte in die Notaufnahme; Dr. Benny bitte dringend in die Notaufnahme!". Blechern und auf eine merkwürdige Weise gleichsam unbeteiligt, so tönte die sonore Stimme und schallte aus den Flurlautsprechern, die zahllos im gesamten Klinikareal verteilt waren. Die Ansage brach sich ungelenk an den Flurwänden, deren Leere nur selten von einem gerahmten Kunstdruck aus dem Versandkatalog unterbrochen wurde. Für atmosphärische Schwingungen fehlte den dafür Verantwortlichen offenbar das hierzu notwendige Feingefühl.
Für die allermeisten Mitarbeiter des Hauses waren das dennoch ganz und gar vertraute Klänge; einen Dreisatz, den sie einfach nicht mehr bewußt zur Kenntnis nahmen, wenn es sie nicht direkt betraf. Klinikroutine eben. Der Dreisatz: ein Klang, ein Gong, eine Durchsage. Ausgerufen von einer sterilen, nüchtern sachlichen Stimme, wie im Warenhaus etwa, wenn der Hausdetektiv mit einem Code zu einem Ladendieb gelotst werden soll. "218 bitte die 410", so oder so ähnlich jedenfalls.
Eine Stimme, die so gar nicht recht zu ihrer Besitzerin passen wollte. Ein Häschen, gerade 20 Lenze, mit verträumten, rehbraunen Augen und schulterlangem, blondierten Haar. Ihr gewöhnlicher Aufenthaltort war das neue "Helpcenter" in der Leitstelle.
"Helpcenter", ja so nannte man fortan die alte, ehrwürdige Klinikspforte seit Neuestem. Ordensschwestern gab es dort nicht mehr. Schwester Gertudis vom "Orden der Heiligen Angebeteten" war mit 72 Jahren letztes Jahr in den Ruhestand gegangen. Mit etwas Nachhilfe von der Ordensoberin, sonst hätte sie weitergemacht. Sie war mit Ihrer Aufgabe verbunden.

Kürzlich hatte das neue Management damit begonnen, überall im Hause neue Bezeichnungen für Altbekanntes und bisher Gewohntes einzuführen. Neue Begriffe wirbelten im Hause herum: "Service-Point", "Case-Manager", "Ressourcenverantwortlicher" waren nur einige wenige davon. Das müsse man so machen, um "zeitgemäß" zu bleiben und um "im Wettbewerb bestehen zu können". So wurde es in der letzten Mitarbeiterversammlung allen Anwesenden, mit wichtiger Mine, von Oberverwaltungschef Zuzewinkel, den sie alle heimlich nur "Zuzi" nannten, erläutert. Offenbar war ein begriffliches Großreinemachen angesagt. Es gab viel zu lernen.
Dr. Benny fluchte kurz, "Mist, hab mein Handy wohl nicht aufgeladen, jetzt suchen sie mich!" Er sprang vom Stuhl auf. Bis zur Notaufnahme waren es nur wenige Meter - und gleich nebenan tobte der Bär. Und sie suchten ihn! Er fühlte sich unbequem.

Mit wehendem, weissen Kittel stürmte er in die Notfallabteilung. "Herr Doktor, wo bleiben Sie denn?", mahnte, mit leicht erhobenem Zeigefinger und gestrengem Blick, die Leiterin der Notfallambulanz. "Herzinfarkt! Der Rettungswagen wird gleich da sein". "Alles klar. Dann mal das Übliche vorbereiten". "Ok, Doc - gut dass Sie jetzt da sind. Da fühlen wir uns gleich besser." Der Blick von Oberschwester Immaulata zeigte echte Erleichterung, ihre Gesichtszüge glätteten sich und nahmen wieder jene, ihre hier jedem bekannte, indifferente Ausgangsposition an. Ein Blick der signalisierte: "Ich verliere hier nie den Überblick." Eine menschliche Milde, die gleichzeitig eine nicht unangenehme Nähe und Wärme auströmte. Ein Ruhepol, ein Fixpunkt, inmitten von Blut, Eiter, Hektik und menschlichem Leid.

Dr. Benny kannte diese Situationen nur zu gut. Er hatte sie oft genug erlebt. Schon länger als 2 Jahre arbeitete er auf der Notfallabteillung der Bergklinik. Er war angesehen und geachtet unter den Mitarbeitern, den Schwestern und den Kollegen. Auch der Chef hielt große Stücke auf ihn; auch oder gerade weil er manchmal leicht chaotische Tendenzen aufwies. Sein klarer Blick und seine aufblitzenden blauen Augen signalisierten dem Beobachter einen hellwachen Verstand. Sein Blick und seine Art hatten etwas Beruhigendes. Das wirkte und flößte Vertrauen ein. Man attestierte ihm zudem fachlich immer auf der Höhe der Zeit zu sein. Ihm stand eine gute Zukunft bevor. So wusste es zumindest der Flurfunk zu berichten.

Es dauerte nun wirklich nicht mehr sehr lange und das lauter und lauter vernehmbare Martinshorn signalisierte dem Team die nahende Lebensgefahr in der sich ein Mensch befand.

Ab jetzt erforderte die Situation Konzentration und professionelle Aufmerksamkeit. 2 Sanitäter und eine Rettungsassistentin schoben den Notfallpatienten in den Schockraum der Notaufnahme. Ein 58-jähriger Verwaltungsangestellter lag, kaum merklich stöhnend und fahl im Gesicht, auf der Trage. "Herr Doktor, sie werden mir doch helfen können, nicht wahr?", flüsterte der, kaum mehr vernehmlich. Dr.Benny nahm sich Zeit und nickte beruhigend mit dem Kopf. "Natürlich werden wir das, Herr Machmüller. Machen Sie sich da mal keine wirklichen Sorgen!" Herr Machmüller reagierte erleichtert und die Pulsfrequenz, die laut vernehmlich aus dem rechteckigen, roten Trage - EKG piepste und jeden grüßte, ging sofort in den Normalbereich herunter. Dr.Benny begann, sich seinen Notfallpatienten nun etwas genauer anzusehen; dieser war etwas zu klein für sein Gewicht geraten. Vergilbte Finger; langjähriger Raucher also. Und so wie das EKG aussah, handelte es sich um einen akuten Herzinfarkt.
Dr. Benny und sein Team wussten genau was zu tun war. Herzkatheterteam alarmieren, Medikamente spritzen, die das Gerinnsel im Herzen auflösten. Infusion und Morphium hatte er schon von der Notärztin erhalten.
Die Notärztin grüsste kurz, Dr. Benny kannte sie aus der Vergangenheit. Sie hatten zusammen studiert und gemeinsam Anatomie gebüffelt. Sie beherrschte Ihr Metier. Das wusste er. Sie war immer noch hübsch anzuschauen, auch in der ernsten Situation. Ihre Blicke kreuzten sich, ein flüchtiges Lächeln huschte von Kollegin zu Kollege und ebenso wieder zurück. Nur Sekundenbruchteile, dann wurden die medizinischen Fakten ausgetauscht und der Patient übergeben.
Dr. Benny verwandte nun seine volle Konzentration auf die erforderlichen Massnahmen und erteilte seinem Team die notwendigen ärztlichen Anordnungen. Es war viel Papierkrieg zu erledigen, doch sie waren ein eingespieltes Team. Es wurde nicht viel gesprochen im Raum. Die Atmosphäre war irgendwie unaufgeregt, ja beinahe entspannt, das übertrug sich auf die Patienten und auf den Ruf des Hauses in seinem Einzugsbereich.

Die Bergklinik in der Kreisstadt genoß bei den Städtern und der Landbevölkerung der Umgebung einen guten Ruf. Auch wenn man nicht freiwillig ins Krankenhaus ging, so wusste man sich dort dennoch geborgen und gut versorgt. Dr. Benny und seine Kollegen hatten daran einen eben nicht gerade geringen Anteil. Der Kreisrat schätzte die Klinik ebenfalls und stattete sie mit den erforderlichen Mitteln aus, die einen wirksamen Betrieb zuliesen, auch wenn die Mittel im Allgemeinen nicht mehr so üppig flossen, wie noch vor Jahren.


 
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